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Gewerkschafts-Genossenschaften und Wirtschaftsdemokratie:
Eine amerikanische Perspektive

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Kultur ist Macht in Aktion

Demokratie gibt es nur bei einem Gleichgewicht der Kräfte zwischen allen Beteiligten. Und eine faire Balance politischer Macht erfordert eine faire Verteilung wirtschaftlicher Macht. Dieses Frühjahr hat der Bundesstaat Minnesota, also dort wo ich lebe, seinen Mindestlohn über den nationalen Mindestlohn angehoben. Ich selbst schrieb einen Abschnitt unseres Konzepts, welches zum Ziel hatte, das Parlament von der Notwendigkeit zu überzeugen, den Mindestlohn zu erhoÃàhen.

Mein Teil erklärte, warum wir gemeinnützige Institutionen zur Unterstützung unserer Kampagne brauchten. Weil mir klar war, dass die Voraussetzung da- für, Abgeordnete im Parlament zu überzeugen, zuerst die UÃàberzeugung der Leute außerhalb des Parlaments war. Und nicht nur die Öffentlichkeit. Umfra- gen haben ergeben, dass die Öffentlichkeit für die Anhebung des Mindest- lohns war, aber die Abgeordneten sagten: Nein. Der Grund lag bei den vielen Unternehmen in Minnesota, die keinen höheren Mindestlohn wollten. Und Personen, welche mehr wirtschaftliche Macht besitzen oder kontrollieren, haben nun mal eine lautere Stimme. Gewerkschaften waren natürlich zentral bei der Kampagne, den Mindestlohn zu erhöhen. Aber deren wirtschaftliche Ressourcen waren klein im Vergleich zu denen der Unternehmer. Deshalb lag unsere beste Chance darin, gemeinnützige Organisationen anzusprechen Als sich dann das Gleichgewicht der Kräfte zu verschieben begann, und zusätzlich noch verschiedene Kleinunternehmen sich für ein "Ja" aussprachen, dann, und nur dann, folg- ten die Parlamentarier der öffentlichen Meinung und sagten ebenfalls "Ja".

Zur Ausübung von Macht gehört, Macht zu besitzen. Demokratie in der Gesellschaft setzt Demokratie in der Wirtschaft voraus. Wir alle müssen ein Stück reale wirtschaftliche Macht besitzen und wir müssen überzeugt sein, moralisch davon überzeugt sein, das Jeder einen Anspruch darauf hat. Wirtschaftliche Macht kombiniert mit Prinzipien schafft Kultur, und Kultur ist Macht in Aktion.

Die Gewerkschafts-Genossenschaft ist eine Quelle wirtschaftlicher Wertschöpfung und Moralität, aus der eine Kultur der Wirtschaftsdemokratie entstehen kann.

Was ist eine Gewerkschafts-Genossenschaft?

Eine Gewerkschafts-Genossenschaft ist eine Genossenschaft der Beschäftigten, wobei diese durch einen Tarifvertrag abgesichert sind. Als ein Arbeiter-Eigentümer bedeutet Teilhabe an der Entscheidungsfindung, die Gewinne und Verluste der Genossenschaft. Der Name "Gewerkschafts-Genossenschaft" bedeutet nicht, dass die Gewerkschaft die Genossenschaft besitzt. Es bedeutet einfach, dass die Genossen durch einen Tarifvertrag geschützt sind.

Wo Beschäftigte Besitzer sind mag der tarifvertragliche Schutz unnötig erscheinen. Aber da Genossen zum Teil Manager und zum Teil eben nicht Managerrollen einnehmen, besteht auch in einer Genosnicht Genossen sind. In den USA müssen neu angestellte Beschäftigte für bis zu zwei Jahre genossenschaftliches Finanzwesen und Entscheidungsprozesse studieren, um sich für die volle Mitgliedschaft zu einzutreten. Tarifverträge stellen sicher, dass alle Beschäftigten gehört werden, sogar die, die keine Genossen sind.

Zusätzlich zur konkreten Verbesserung der Lebensumstände von Beschäftigten kann die Gewerkschafts-Genossenschaft gesellschaftspolitische Ziele erreichen. Sie kann dazu beitragen, für Gewerkschaften und Genossenschaften neue Mitglieder zu gewinnen. Sie kann gemeinsame Interessen und Ziele zwichen Gewerkschaften und Genossenschaften kultivieren—dadurch Möglichkeiten für politische Bündnisse vorbereiten.

Die Gewerkschafts-Genossenschaft kann auch die Wirtschaft vor Ort stärken. Schlüssel einer gesunden Wirtschaft ist ein lokal verankerter Zyklus aus Produktion und Konsum. Wenn in jeder Stadt und jedem Bundesland die Menschen, die dort arbeiten genug verdienen um das zu kaufen, was sie produzieren, dann erfüllt die Wirtschaft ihr fundamentales Ziel nachhaltigen Arbeitens und Lebens.

Was ist die USW-Mondragon "Gewerkschafts-Genossenschafts" Initiative?

2009 kamen die Stahlarbeitergewerkschaft (United Steelworkers Union oder USW), Nord-Amerikas größte Industriegewerkschaft, der spanische Mondragon Unternehmensverbund, und das Selbstverwaltungszentrum aus Ohio (Ohio Employee-Ownership Center) zusammen. Die Gespräche hatten das Ziel zu überlegen, wie mehr Genossenschaften von Beschäftigten in den USA gegründet werden könnten.

Mondragon wurde 1956 aus der Taufe gehoben und besteht heute aus hunderten von Genossenschaften mit einem jährlichen Umsatz von 24 Milliarden U.S. Dollar. 2012 veröffentlichten die drei Organisationen ein Handbuch, genannt "Sustainable Jobs, Sustainable Communities: The Union Co-op Model". Auf Kurzzusammenfassung meiner Rede (www.usw.org).

Das Handbuch ist die Essenz der USW-Mondragon Initiative. Die eigentliche Arbeit und Anstrengung leisten die Beschäftigten, Gewerkschaften, Genossenschaften, und gemeinnützigen Initiativen, die von diesem Modell erfuhren und dann beschließen, es in ihren eigenen Städten umzusetzen.

Wie ist die Gewerkschafts-Genossenschaft organisiert?

Die deutsche Tradition von Partnerschaft und Mitbestimmung schafft eine gute Grundlage für die Gewerkschafts-Genossenschaftsidee. Halten wir uns die Entscheidungsgremien einer jeden Genossenschaft vor Augen. In Deutschland wären das, und korrigieren Sie mich wenn ich falsch liege, die Generalversammlung aller Besitzer der Genossenschaft; der Vorstand, der die Genossenschaft managt und der von der Generalversammlung gewählt wird sowie der Aufsichtsrat, der die langfristige Geschäftsstrategie festlegt.

Im Falle der Gewerkschafts-Genossenschaft kommt noch die Gruppe aller nicht im Management Beschäftigten, sowohl Genossen als auch Beschäftigte, die nicht der Genossenschaft angeh√∂ren und durch den Tarifvertrag abgesichert sind hinzu. Und ebenso das Gewerkschaftskomitee, das von allen nicht im Management tätigen Beschäftigten gewählt wird und diese laut Tarifvertrag vertritt.

In einer Gewerkschafts-Genossenschaft in den USA kann ein Genosse Mitglied des Aufsichtsrats, des Vorstands oder des Gewerkschaftskomitees sein—aber nur sukzessive, nicht gleichzeitig. In Deutschland mag es sinnvoll sein oder auch nicht, dass sowohl Genossen als auch Beschäftigte, die nicht der Genossenschaft angehören, laut Tarifvertrag im Aufsichtsrat vertreten sein können.

Ein genauer Blick auf das Gewerkschaftskomitee

Das Gewerkschaftskomitee implementiert den Tarifvertrag, soweit es um Löhne, beschäftigtenbezogene Leistungen und Arbeitsbedingungen auf der Ebene der Gewerkschafts-Genossenschaft geht. Es hilft dabei, Konflikte zwischen Beschäftigten im Management und nicht im Management Beschäftigten zu lösen. Das Gewerkschaftskomitee hat auch die Befugnis, Betriebsvereinbarungen zu verhandeln. Ich glaube, das ist sehr nahe an der Rolle des Betriebsrats in Deutschland dran. Deshalb schlage ich vor, dass in einer deutschen Gewerkschafts-Genossenschaft der Betriebsrat die Rolle des Gewerkschaftskomitees übernimmt.

In den USA verhandelt das Gewerkschaftskomitee auch den Firmentarifvertrag. Aber ich verstehe das so, dass in Deutschland ein Tarifvertrag typischerweise zwischen der Gewerkschaft und dem Arbeitgeber- verband auf einer höheren Ebene, als Flächentarifvertrag, ausgehandelt wird. Dies würde bedeuten, dass die Gewerkschafts-Genossenschaft einem Arbeitgeberverband beitreten müsste. Aber als ein genossenschaftlich organisiertes Unternehmen oft bescheidener Größe hätte die Gewerkschafts-Genossenschaft wenig Einfluss auf den Arbeitgeberverband. Deshalb mag ein Arrangement rein auf der Unternehmensebene die bessere Wahl zu sein. Letztlich kann ich das nicht beurteilen. Das müsten Sie selbst entscheiden.

Wie auch immer, ich stelle mir vor, dass der Betriebsrat im Alltag des Unternehmens die Rolle des Gewerkschaftskomitees einnehmen kann.

Wie finanziert sich die Gewerkschafts-Genossenschaft?

Ziel der Gewerkschafts-Genossenschaft ist ein sich zu hundert Prozent im Besitz der Beschäftigten befindliches Unternehmen, wobei jeder einzelne Beschäftigte einen gleichen Anteil erwirbt und sein Eigen nennt. Werden zu Beginn andere Investoren gebraucht, was in kapitalintensiven Industrien wie dem Produktionsgewerbe durchaus zu erwarten ist, dann empfiehlt unser Modell Investitionen von Institutionen, die Genossenschaften und Gewerkschaften verstehen. Solche Institutionen können Genossenschaftsbanken, andere Genossenschaften oder gemeinnützige Organisationen sein. Auf jeden Fall muss von Anfang an ein klares Konzept bestehen, wie das Ziel "100 Prozent Eigentum durch die Beschäftigten" zu erreichen ist. Jeder interessierte Beschäftigte könnte zum Beispiel einen Teil seines Monatslohns automatisch auf sein Genossenschaftskonto gutgeschrieben bekommen, so dass die Beteiligungsquote jedes einzelnen Beschäftigten wächst und sie im Laufe der Zeit die Anteile von Außeninvestoren zurück kaufen können.

Immer sollte man sich vor Augen halten, dass Demokratie eine Balance von Macht erfordert, bei der kein Besitzer einen Anteil halten sollte der wesentlich größer ist als der eines Anderen. Wenn daher ein Außeninvestment unumgänglich ist, rät unser Modell dazu, mehrere Investoren mit moderaten Anteilen zu gewinnen anstatt einem oder zwei Großinvestoren, die dann zu viel Macht über die Genossenschaft hätten.

Weshalb gibt es so wenige Genossenschaften in der Hand der Beschäftigten?

Von insgesamt 5.7 Millionen Firmen in den USA sind nur 300 echte Genossenschaften, die sich in der Hand ihrer Beschäftigten befinden. Das Wirft die Frage auf: Ist das ein nachhaltiges Geschäftsmodell? Die Forschung sagt uns: Ja, echte Genossenschaften haben gute Überlebenschancen.

Es gibt wenig historische Daten zu Genossenschaften in USA. Aber Erik Olson, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität von Missouri in Kansas City, hat die Überlebenschancen von Genossenschaften im Besitz der Beschäftigten in Uruguay, Groß-Britannien, Frankreich und Israel mit denen konventioneller Firmen in diesen Ländern verglichen, auch mit denen konventioneller Firmen in den USA. Seine Ergebnisse belegen, dass die Überlebenschancen solcher Genossenschaften gleich groß oder größ er als die herkömmlicher Firmen sind.

Das bedeutet, es gibt deshalb so wenig Genossenschaften in Arbeitnehmerhand, weil so wenige gegründet wurden. Für jedes Unternehmen bedeuten die ersten Jahre ein hohes Risiko. Partnerschaften mit anderen Institutionen können dann zur Seite stehen. In der Gewerkschafts-Genossenschaft verbündet sich eine Gewerkschaft mit den Beschäftigten der Genossenschaft sogar von Anfang an. Die Gewerkschaft kann der neuen Genossenschaft bei der Planung, Akquisition, legalen Erfordernissen und Öffentlichkeitsarbeit helfen.

Es ist auch denkbar, die Anfangsschwierigkeiten ganz zu umgehen indem konventionelle Unternehmen zu Gewerkschafts-Genossenschaften konvertieren. Ein Besitzer eines Kleinunternehmens der in Rente geht und keine Kinder hat, die den Laden übernehmen, mag sich glücklich schätzen zu erfahren, dass die Übergabe an die eigenen Beschäftigten eine reale Möglichkeit ist. Diese Art der Übernahme ist weniger risikoreich, da das Unternehmen bereits loyale Kunden und erfahrene Mitarbeiter besitzt. Die Partnerschaft der Gewerkschaft bedeutet zusätzliche Unterstützung und Stabilität.

Ob es sich um Neugründung oder Übernahme durch Mitarbeiter handelt, wichtig bleibt die Verbindung zu anderen Institutionen. Solche, die genossenschaftliche Praktiken und Prinzipien verstehen, werden die Gewerkschafts-Genossenschaft stärken; solche, die nur konventionelle Unternehmenspraktiken und Prinzipien gewöhnt sind, werden die Gewerkschafts-Genossenschaft schwächen. Warum? Weil Menschen und Institutionen ihre eigenen Verhaltensweisen und Wertvorstellungen mit den Menschen und Institutionen abgleichen, von denen sie abhängen. Das liegt in der Natur der menschlichen Kultur. Etwas, was ich später diskutieren werde, denn es ist zentral für den Erfolg von Gewerkschafts-Genossenschaften und der Wirtschaftsdemokratie.

Zunächst einmal, was gibt es Neues über die Initiative in USA zu berichten?

Die Stadt Cincinnati ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Initiative funktioniert. Gewerkschaftsmitglieder und Mitglieder gemeinnütziger Organisationen haben sich zur Gewerkschafts-Genossenschaftsinitiative Cincinnati zusammengeschlossen, nachdem sie von der USW-Mondragon Initiative gehört hatten. Zu den Gründungsmitgliedern zählen Direktor Kristen Barker, Flequer Vera, und Ellen Vera von der Gewerkschaft "United Food and Commercial Workers Union" und Phil Amadon von der Gewerkschaft "International Association of Machinists".

Leute aus Cincinnati schufen das Projekt in Cincinnati. Und die USW und Mondragon haben positiv auf die Bitte nach Beratung und sogar direkter Beteiligung reagiert. Heute hat Cincinnati zwei neue aktive Gewerkschafts-Genossenschaften:

Die eine heißt "Our Harvest", eine landwirtschaftliche und Einzelhandels-Genossenschaft, deren Beschäftigte von der Gewerkschaft "United Food and Commercials Workers Union" vertreten werden. "Our Harvest" fing vor zwei Jahren mit fünf Mitarbeitern an und hat heute fast zwanzig Vollzeit-Beschäftigte.

Die andere heißt "Sustainergy", eine Genossenschaft, die sich auf die Steigerung der Energieeffizienz kommerzieller und gewerblicher Gebäude spezialisiert. Die Beschäftigten bei "Sustainergy" werden von zwei Gewerkschaften vertreten: die "International Brotherhood of Electrical Workers" und die "United Association of Plumbers and Pipe Fitters".

Unterdessen hat Cincinnati fünf weitere Gewerkschafts-Genossenschaften in der Entwicklung. Bei jedem dieser Projekte kommt eine Arbeitsgruppe zusammen, die aus Gewerkschaften vor Ort, gemeinnützigen Organisationen und regierungsstaatlichen Institutionen gebildet wird und Forschung, Planung, und Lobbyarbeit für die neue Gewerkschafts-Genossenschaft betreibt. Die Arbeitsgruppe der Cincinnati Initiative für die Genossenschaft "Our Harvest" schließt beispielsweise ein: die Gewerkschaft "United Food and Commercial Workers Union", Mondragon, zwei gemeinnützige Organisation, nämlich "We Thrive!", das "Center for Community Change", sowie drei regierungsstaatliche Institutionen: das "Ohio Employee Ownership Center", das "Ohio Cooperative Development Center" und das "Agricultural Extension Office" der staatlichen Univerität Ohios. Über Cincinnati hinaus sind in fünfzehn weiteren Städten lokale Organisationen dabei, die Chancen für Gewerkschafts-Genossenschaften zu erkunden.

Unser Modell kann bei großen Genossenschaften mit Hunderten oder sogar Tausenden von Beschäftigten als auch sehr kleinen Genossenschaften Anwendung finden. In Cambridge, Massachusetts, wo die Harvard Universität zu Hause ist, befindet sich eine zwei-Personen Druckerei, die Kleinste Gerwerkshafts-Genossenschaft der Welt. Die beiden Genossen der Firma werden durch die Stahlarbeitergewerkschaft USW vertreten.

Wirtschaftsdemokratie haÃàngt von demokratisch geführten Unternehmen ab, die groß oder klein sein können. Nach vielen Jahrzehnten des darauf Beharrens, dass größer besser ist, vertreten die amerikanischen Gewerkschaften heute den Standpunkt, dass gewerkschaftliche Organisierung in jeder Firma zählt.

Warum Wirtschaftsdemokratie?

Vielleicht aus moralischen Gründen. Weil wir glauben, dass gemeinsame Entscheidungskompetenz, gegenseitige Verantwortlichkeit und Respekt für persönliche Initiative notwendig zur Erfüllung unseres menschlichen Potentials sind und diese Bedingungen nur gegeben sein werden, wo eine Machtbalance aller Teilnehmer existiert.

Und vielleicht aus praktischen Gründen. Weil wir sehen, dass in der natürlichen Welt Verschiedenartigkeit, Schönheit, Vielfältigkeit und Robustheit kreiert und unterschiedliche Formen in der politischen Öko- nomie, ebenso Schönheit, vielfältige Anwendungsmöglichkeiten und gemeinsamer Fortschritt schafft.

Die Wirtschaftskrise von 2008 ist eine unweit zurückliegende Erinnerung an die Hässlichkeit ungleichen Fortschritts. In den USA konnte man beobachten, wie sich Aktiengesellschaften besser als je zuvor von der Krise erholten, waÃàhrend normale Arbeitnehmer weiterhin litten. In der Dekade von 2000 bis 2010 ver- doppelten sich die US-Unternehmensgewinne auf 1.6 Billionen US Dollars, trotz der Wirtschaftskrise.

In derselben Dekade hat sich die Anzahl der Arbeitssuchenden pro offener Stelle von einem Arbeitssu- chenden im Jahr 2000 auf etwa 5 Arbeitssuchende pro einer offenen Stelle im Jahr 2010 vergrößert. Und ein zunehmender Prozentsatz von Arbeitsstellen ist Teilzeitarbeit zu geringen Stundenlöhnen.

Langfristig gesehen kann man sagen, dass das reale durchschnittliche Familieneinkommen von 1947 bis 1970 parallel zur Produktivität anstieg. Aber selbst als die Produktivität der Beschäftigten bis heute immer weiter anstieg, begann das durchschnittliche Familieneinkommen zu stagnieren und liegt heute kaum über dem von 1970.

Gewerkschaften haben sich energisch für adäquate Löhne eingesetzt. Aber der Anteil von Beschäftigten in USA, die Gewerkschaftsmitglied sind, hat sich seit 1973 auf heute etwa 11 Prozent halbiert. Es ist mein Verständnis, dass sich die Mitgliedschaft in deutschen Gewerkschaften seit den 1980er Jahren halbiert hat, und heute etwa 15 Prozent der Erwerbsbevölkerung ausmacht.

Gewerkschaftsvertreter selbst sagen, dass Gewerkschaften in den USA in der nächsten Generation ganz verschwinden könnten. So ist das. Es sei denn, wir nehmen eine wichtige Änderung vor.

Wie können Gewerkschafts-Genossenschaften zu Wirtschaftsdemokratie beitragen?

Wirtschaftliche Macht kombiniert mit Prinzipien schafft Kultur. Die Menschen schaffen eine Kultur gemeinsamer Praktiken und Überzeugungen als Ausdruck des Bedürfnisses eines Jeden, in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht effektiv zu handeln und eine kohärente sittliche Weltanschauung zu entwickeln. Das meint die britische Anthropologin Mary Douglas. Wenn effektive soziale und wirtschaftliche Praktiken mit Prinzipien harmonieren und wenn eine Gruppe von Menschen für diese gemeinsamen Praktiken und Prinzipien eintritt, dann entstehen nachhaltige Institutionen. Die Menschen zieht es nun mal zu einer gemeinsamen Kultur, weil es einfacher ist, mit Jemandem zusammen zu arbeiten, der Dinge in derselben Art und Weise angeht und es wird schwieriger, wenn das nicht der Fall ist.

Von dieser Theorie können wir zweierlei lernen. Zum einen, dass es nicht ausreicht Menschen zu ermutigen, an demokratische Prinzipien zu glauben. Die Prinzipien müssen entsprechende soziale und wirtschaftliche Praktiken fördern und von diesen Unterstützung finden, damit Menschen ihre Alltagsbedüfnisse befriedigen können. Und zum anderen, dass ähnliche Praktiken und Prinzipien eine Brücke zwischen scheinbar unterschiedlichen Institutionen darstellen können. Die Gewerkschafts-Genossenschaft bringt deshalb nicht aus Zufall Gewerkschaften mit der Genossenschaftsform zusammen, die ihnen am Ähnlichsten ist: Die Genossenschaft, die sich in der Hand der Beschäftigten befindet (worker cooperative).

Manchmal passiert es, dass eine Institution nicht passende Praktiken und Prinzipien adoptiert. Das geschah zum Beispiel, als eine Verbrauchergenossenschaft in Minnesota so schlechte Löhne und Arbeitsbedingungen festlegte, dass sich die Beschäftigten zu ihrem eigenen Schutz gewerkschaftlich organisierten. In diesem Fall distanzierte sich die Genossenschaft von ihrer eigenen Genossenschaftskultur und übernahm ein Verhalten, das typisch für Aktiengesellschaften ist. Weshalb?

Dazu müssen wir über Douglas's Theorie von Institutionen hinaus gehen und das Verhalten von verschie denen Arten von Institutionen diskutieren. Dieselben Regeln zur Kultur treffen auch auf dieser höheren Ebene zu, aber ich schlage darüber hinaus vor, dass diese unterschiedlichen Arten von Institutionen von Personen gebildet werden, die Macht in ähnlichen wirtschaftlichen Rollen ausüben. Das bedeutet, dass wenn Personen in kulturell ähnlichen Institutionen sich politisch zusammenfinden und organisieren, Praktiken und Prinzipien teilen und damit beträchtliche wirtschaftliche Macht gewinnen, dann können sie die ganze Gesellschaft beeinflussen. Nennen wir diese Personengruppe eine politisch-wirtschaftliche Gemeinschaft. Beispiele aus der neueren Geschichte schließen Anteilseigner von Unternehmen, Eigentümer privater Firmen, Gewerkschaftsmitglieder, Genossenschaften, Landwirte und Religionsführer ein. Wenn eine Gesellschaft aus vielen solcher gewichtigen politisch-wirtschaftlichen Gemeinschaften besteht, findet man eine vielfätige Kultur vor. Hat eine politisch-wirtschaftliche Gemeinschaft bedeutend mehr Macht als die anderen, wird die Kultur dieser einen Gemeinschaft die Gesamtgesellschaft dominieren. Mit der Folge, dass sogar Mitglieder ganz anderer Gemeinschaften, wie die Vertreter jener Verbrauchergenossenschaft aus Minnesota, sich allmählich der größeren Macht anschließen.

Heute übertrifft eine politisch-wirtschaftliche Gemeinschaft, Anteilseigner von Unternehmen, die wirt- schaftliche Macht aller anderen. Jedes Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft wird zugeben, dass es sich hier nicht um eine Demokratie handelt; Aktienbesitzer einerseits und Beschäftigte andererseits gehören zu ganz unterschiedlichen Gruppen mit verschiedenen Privilegien und unterschiedlicher Macht. Solange diese Art Unternehmen die Wirtschaft dominieren, wird ihre Kultur die Gesellschaft dominieren.

So wie Ungleichheit im Wohlstand in den USA seit den 1970ern zugenommen hat, so hat sich auch die Kultur verändert. Weg von sozialer Solidarität hin zu individuellem Wettbewerb und dem Glauben, dass die privilegierte Minderheit das Recht hat, wie Aristokraten über die Mehrheit der Verlierer zu regieren. Obwohl soziale Solidarität wahrscheinlich immer stärker in Europa als in USA war, so erscheint es mir, dass auch Deutschland einen kulturellen Wandel durchgemacht hat. Etwa seit 1980 den Wandel in Richtung eines Individualismus, der es schwieriger für Genossenschaftsmitglieder gemacht hat, sich aktiv für die Ideale dieser Rechtsform einzusetzen und schwieriger für Gewerkschaften gemacht hat, neue Mitglieder zu gewinnen.

Der Politikwissenschaftler Stephen Silvia von der Amerikanischen Universität in Washington hat deutsche Daten für die Zeit von 1954 bis 2009 untersucht und fand heraus, dass der wichtigste Faktor für den gewerkschaftlichen Organisationsgrad das soziale Milieu oder die Kultur ist, gemessen etwa an der Bereitschaft, sich für eine linke Partei zu engagieren (wie die SPD vor der Wiedervereinigung und Die Linke heute). In dem Maße, in dem Kultur nach rechts driftet, fällt der gewerkschaftliche Organisationsgrad.

Deutsche Gewerkschaften und Unternehmerverbände haben nach dem 2. Weltkrieg eine effektive Partnerschaft entwickelt. Aber die Phase dieser Partnerschaft und relativer wirtschaftlicher Gleichheit in Europa und USA waren ein seltener Moment in der Geschichte, sagt der Politikwissenschaftler Gar Alperovitz von der Universität Maryland. Heute geht es wieder in Richtung der normalerweise herrschenden industriellen Beziehungen.

Forschungsergebnisse des Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty der Paris School of Economics zeigen, dass in den letzten 300 Jahren, mit Ausnahme der Mitte des 20. Jahrhunderts, der Renditesatz für Besitzer von Kapital (gemessen an Profiten und Zinsen) die Rate des Wirtschaftswachstums überstieg. Mit der Folge, dass Kapitalbesitzer Wohlstand schneller angehäuft haben als diejenigen, die lediglich Lohnabhängige sind.

Wie Besitz organisiert ist

Besitz allein schafft keine Ungleichheit. Es hängt davon ab, wie Besitz organisiert ist. Besitzen wir die Wirtschaft demokratisch, wo Jeder ungefähr die gleiche Chanve hat zu profitieren und zu entsheiden? Oder besitzen wir sie aristokratisch, wo einer Minderheit der Löwenanteil von Erträgen und der Macht zu entscheiden zukommt?

Führungskräfte von Unternehmen besitzen aristokratische Macht über Beschäftigte und sind nur Anteilseignern verantwortlich. Diese Anteilseigner sind Investoren, die überall auf der Welt sitzen können und deren Interesse am Unternehmen ganz einfach ist: eine hohe Rendite für ihr Investment. Das Stimmrecht von Anteilseignern ist nicht dem demokratischen "Jeder hat eine Stimme" vergleichbar. Stattdessen gilt "ein Anteil, eine Stimme" Die Person, die es sich leisten kann die meisten Anteile zu kaufen und zu halten, gewinnt.

Es ist der Mangel an Demokratie in Aktiengesellschaften, der es den Führungskräften erlaubt, Wohlstand ungleich zu verteilen. Sie können riesige Profite generieren, indem sie den Gesamtvert der von ihren Beschäftigten geschaffen wird so aufteilen, dass nur ein Teil davon in Form von Löhnen zurückgezahlt und der Rest zwischen Fürungsgehältern und Profiten für Anteilseigner aufgeteilt wird. Je geringer die Löhne, desto größer der Anteil für Führungskräfte und Anteilseigner.

Dieses Ungleichgewicht von Wohlstand, welches in jeder Aktiengesellschaft besteht, wirft letztendlich die Gesamtgesellschaft aus ihrer Balance, weil eine politisch-wirtschaftliche Gemeinschaft — Anteilseigner von Unternehmen — die Macht hat, private wie öffentliche Angelegenheiten zu dominieren. Diese Gruppe kann den öffentlichen Diskurs dominieren, indem sie die Werbung bezahlt und Medien besitzt. Sie kann Städte belohnen oder bestrafen, indem sie Fabriken eröffnet oder schließt. Und sie kann private oder politische Karrieren befördern oder zerstören. Es ist der normale Lauf der Dinge.

Die Kultur bewegt sich in Richtung von Unternehmensprinzipien wie Wettbewerb und Individualismus und beraubt damit Gewerkschaften und Genossenschaften vieler potentiellen Mitglieder, da Anteilseigner von Unternehmen zunehmend die Wirtschaft dominieren. Wir, die wir an Wirtschaftsdemokratie glauben, müssen uns unseren Marktanteil erkämpfen.

Schrittweise geht es darum, Unternehmen von Anteilseignern durch demokratisch organisierte Genossenschaften, Vereinigungen, und Gewerkschaften zu ersetzen, in denen alle Teilnehmer, einschließlich die Beschäftigten, die Macht haben, die Idee "eine Person, eine Stimme" durchzusetzen. Erst dann sind Autorität und Wohlstand gerecht verteilt und Alle einander rechenschaftspflichtig. Eine Mehr an demokratisch organisierten Institutionen bedeutet eine größere Anzahl von Menschen, die an wirtschaftlichen Entscheidungen beteiligt sind, die für ihr Auskommen auf Demokratie angewiesen sind und die die Demokratie als ein "way of life" verteidigen werden.

Der Weg ist ein zivilisierter Kampf dafür, über einen angemessenen Anteil realer Macht in der Wirtschaft zu verfügen. Eine kleine Macht kann nicht eine große Macht nur mit Hilfe globaler Kampagnen erfolgreich konfrontieren. Deshalb müssen wir "von Stadt zu Stadt" vorgehen. Wir fangen mit Gewerkschafts-Genossenschaften an, die von Beschäftigten einer Stadt gegründet werden und für Konsumenten dieser Stadt produzieren. Und das machen wir in Städten weltweit.

Gewerkschafts-Genossenschaften sind der Motor einer Kultur, die eines Tages demokratische Institutio- nen in die Lage versetzen kann, es mit der Wirtschaftsmacht von Gesellschaftsaktionären aufzunehmen und eine stabile und demokratische Wirtschaft und Gesellschaft zu verwirklichen.

Quellen

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3. —. "Minimum-Wage Victory Showcases Strength, Potential of Partnerships Between Labor and Community Organizations." St. Paul Union Advocate, May 2014. See advocate.stpaulunions.org.

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5. Olsen, Erik. "The Relative Survival of Worker Cooperatives and Barriers to Their Creation," in Advances in the Economic Analysis of Participatory & Labor-Managed Firms, Volume 14, 83-108. Emerald Publishing Group, 2013.

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18. Kelly, Marjorie. The Divine Right of Capital: Dethroning the Corporate Aristocracy. Berrett-Kohler Publishers, 2003.

19. Ibid. 10.

© 2014 John Clay